#05: Burgdorf, 28.-30.10.2022

Trailer by Zoé

Festival-Booklet by Tim


Rückmeldung von Rolf Murbach

Lieber Urs, liebe Vera

Wow, das war wieder grandios! Ihr schafft es jedesmal, das Bisherige zu toppen! Die Location: fantastisch, die Filme: eine vorzügliche Wahl. Die Aktivitäten: besser geht nicht.
Ich war noch nie in Burgdorf, für mich eine Entdeckung, die Altstadt, das Hotel, die Gassen und natürlich die Burg. Da waren wir gleich in einer anderen Zeit, das passte zu den Geschichten, die wir sahen, hörten, erdachten und erzählten. In der Nacht sah ich einen Menschen mit einem grossen Bündel Leintücher über den Hof huschen. Ein irrender Mönch oder trostloser Burgherr auf dem Weg zu Intrige, Mord, List oder Lust? Auf jeden Fall passte das zu Boccaccio, von dem wir gerade eine Novelle hörten. Überhaupt war der Ort sehr stimmig, denn wo ist es schöner, über Filme, Gott, Ordnung, Chöre und Hoffnung zu sinnieren als in mittelalterlichen Gemäuern?

Ihr schafft es immer wieder, einen Rahmen zu schaffen, der vieles ermöglicht und uns beglückt. Es sind nicht nur die Filme, die bleiben – klar, die besonders -, es sind auch die Menschen, denen wir gegenübersitzen, denen wir alle Jahre wieder begegnen, eine Art Klassen- oder Familientreffen – zu dem sich jedesmal neue gesellen. Das war für mich dieses Jahr besonders schön: mit ganz unterschiedlichen, liebenswürdigen und spannenden Menschen Bereicherndes zu teilen. Es war wie ein Zauber.

Sinema macht süchtig, weil sich da mit Sicherheit, die von Urs immer wieder beschworene Magie einstellt, magische Momente, wie er so schön sagt und schwärmt und lobt. Dein Enthusiasmus, Urs, ist ansteckend, deine Liebe zu Filmen, Geschichten und berührenden Momenten auch. Und, Vera, dein beherztes Engagement, das Bereitstellen so vieler stimmiger Details, ist wunderbar. Alles, wirklich alles war perfekt gestaltet, inszeniert und moderiert. Das muss man erst mal hinkriegen. Einzig: Die verdammte Plastikhülle der Nastüchli liess sich nicht öffnen. Ich sass am Schluss von Dead Poet Society mit tränengenässtem Gesicht da und starrte auf die Leinwand. Was für ein Bild, die Jungs auf den Tischen, John Keating mit sanftem Lächeln, Melancholie und Ledermappe, bereit zum Gehen. Schliesslich: Der versteinerte, sture, lebensfeindliche Schulleiter im Abseits.

Am Schluss gewinnt, fast immer, die Lebendigkeit. Es geht nicht anders, es muss so sein. Das sehen wir auch, wenn uns Filme das Herz öffnen, wenn wir uns berühren lassen (und oft auch lachen), von den Mitgliedern des Clubs der toten Dichter in ihrer Höhle, auf dem Schulhof, im Klassenzimmer. Aber auch von Nora und ihren mutigen Frauen auf dem Lande, die sich auflehnen gegen die patriarchale Gesellschaft, gegen die vermeintlich göttliche Ordnung. Im schönen Trailer von Zoé spricht Nora über diese göttliche Ordnung, wie sie sein könnte, sein muss: gleiches Recht, gleiche Teilhabe für alle. Dieser Film hat mich erneut berührt, weil hier Menschen, Frauen in dieser Geschichte, ihr Leben in die Hand nehmen, sich im Dachstock versammeln (und dort sehr zärtlich sind), vor versammelter Gemeinde aussprechen, was ist und was sein muss. Autonomie, Gleichberechtigung, Menschlichkeit. Wie schön, wie die italienische Restaurantbesitzerin ihr Lokal öffnet und zu Mut ermutigt.

Die göttliche Ordnung hat mich in meine Kindheit zurückgeworfen. Vieles kam mir bekannt vor, die verstaubten Siebzigerjahre, das Patriarchat, das alles durchdrang und im Begriffe war, langsam, langsam zu erweichen. Die Filme verweisen auf die eigene Geschichte, konfrontieren uns mit unserem Leben. Auf einmal verstehen wir, was war und was Aufbruch meint. Wir tun dies im Zeitraffer und werden gewahr, dass da neben Zeitgeschichte auch ein Teil der eigenen Geschichte lebendig wird. Die strengen Väter, die verkrusteten, rigorosen Strukturen – und eben die vielen Aufbrüche und Wandlungen. Ja, Geschichten verändern uns, und sie zeigen uns, dass Veränderung immer unerlässlich ist. Mir geht es so: Ich schlafe, und auf einmal bricht etwas auf. Ich denke: Wir müssen immer wieder die lästigen, dogmatischen und technokratischen Anleitungen zum besseren Verständnis von Poesie aus den verstaubten Büchern herausreissen. Wir tun gut daran, auf Tische zu stehen und eine andere Perspektive einzunehmen. Und es ist wichtig, wollen wir am Leben teilhaben, das, was uns beengt und hindert, in Schranken zu weisen. Wie das Nora und ihre Mitstreiterinnen getan haben. Gut, wenn wir merken, dass wir allzu leicht in Gleichschritt verfallen und dumpf in eine Richtung gehen. Offenbar braucht es Menschen wie John Keating, die uns den Spiegel vorhalten. Und es braucht Filme.

Wir lassen uns berühren, verlieben uns in Figuren, leiden an Missständen und lachen – oft auch über uns. Das Schöne an Sinema ist, wir tun dies gemeinsam. Wir verlassen das Lichtspieltheater, schauen uns schweigend an, wundern uns, sind betreten oder befreit, trinken ein Bier, rauchen eine Zigarette. Und dann erzählen wir uns wieder (eigene) Geschichten, lauschen dem anderen gebannt zu und werden uns bewusst, wie wichtig es ist, dass wir einander erzählen. Es war für mich beglückend zu erfahren, wie wir in der Schreibwerkstatt oder bei Boccaccio Burgdorf in der Nacht im Hof schöne, skurrile, witzige, berührende Anekdoten und Erinnerungen teilten. Ja, es braucht das Gegenüber. Wenn wir einander am eigenen Leben teilhaben lassen, dann sind wir weniger einsam. Vera und Urs, ihr schafft mit Sinema dafür immer wieder den passenden Rahmen.

Capernaum hat mich umgehauen, sprachlos zurückgelassen. Wie kann das wahr sein, so viel Leid, Armut, Verzweiflung und Unmenschlichkeit? Unmenschlichkeit aus Verzweiflung. Und doch ist da Zain, der alles tut für ein besseres Leben, der nicht aufgibt, der bei allem Dreck, trotz Abgrund kämpft, nicht aufgibt. Auch er hält uns einen Spiegel vor. Seine Situation mag noch so ausweglos ist, er tut alles, um der Armut und der Ungerechtigkeit, die sein Leben prägen, etwas entgegenzuhalten. Wenn ich diesen Film sehe, dann bleiben neben dem Entsetzen Demut und Dankbarkeit. Die eine oder andere Klage werde ich künftig zurückhalten. Dass Zain seine Eltern anklagt, weil sie ihn in diese Welt gesetzt haben, ist erschreckend. Immerhin: Ganz am Schluss, auf dem Passbild, lächelt der Junge. Ein Funke Hoffnung, ein wenig Zuversicht, wenigstens, was diese Geschichte anbelangt. Aber das Ende täuscht nicht darüber hinweg, in welcher Welt er lebt. Die Bilder der Elendsquartiere, des Schmutzes in den Häusern, der Enge, der Strassenkinder, des Lärms und Gestanks und vor allem der Gewalt in den Familien, diese Bilder bleiben.

Danke, Vera und Urs, für diese wunderbaren Tage. Murten, das hört sich gut an. Wir sind gespannt und freuen uns!

Herzlich, Rolf



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